Tischgespräch [12]

Mutter:
Herr Rushdie hat fast nur Atheisten als Freunde.
Vater:
Hmm.
Mutter:
Mir widerstrebte es, meine Freunde danach auszuwählen.
Vater:
Also bei uns ist das nicht viel anders, sieh dich doch um! Mit den Gläubigen verbinden uns nur die Kinder.
Mutter:
Stimmt gar nicht! (Zählt auf und muss feststellen, dass ausser den Kindern nur noch die Politik verbindet.)
Vater:
Sag ich ja.
Mutter:
Ich bin zufrieden als Agnostikerin.
Vater:
Der Agnostiker ist eine Erfindung aus Zeiten, in denen die Gotteswahrnehmung unverrückbarer Bestandteil des Lebens war. Agnostizismus wurde für die Bedauernswerten erfunden, die Gott leider nicht erkennen konnten. Eher eine Krankheit denn eine Überzeugung. Dein Handeln ist weder von dem Glauben noch vom Zweifel an Gott bestimmt, in tiefstem Herzen bist du eine stinknormale Atheistin.
Mutter:
Oh! Meine katholische Freundin sagt auch immer, in tiefstem Herzen sei ich ein sehr gläubiger Mensch. Schön, dass alle so gut Bescheid wissen.
Kind:
Aber, Mam, wenn es Gott gibt, weshalb sollte er so dumm sein und Naturgesetze schaffen, die ihn immer wieder widerlegen?
Mutter:
Die Naturgesetze gehören für mich auch nicht zu den unlösbaren Fragen, die stehen völlig ausser Diskussion. Meine Bekannten und meine Schülerinnen wissen genau, dass ich keine Sekunde zu keinerlei Debatte darüber bereit bin. Aber ich weiss halt nicht, ob vor der Geburt etwas war und nach dem Tod etwas folgt. Und ich kann gut mit Leuten arbeiten, die hilfsbereit, zuverlässig und menschenfreundlich sind. Und manchmal sind die eben gläubig.
Vater:
Es stimmt, dass Wohlverhalten in unserem Umfeld oft aus dem Glauben resultiert. Aber selbst ich als dogmatischer Atheist verhalte mich wohl und finde genügend Motive dafür.
Mutter:
Aber wir kennen doch gute Theologinnen und Theologen, jemand muss diesen Job machen. Ist ihre Motivation so zentral?
Vater:
Ach, denen glaube ich ja auch nicht, dass sie glauben.
Mutter:
Auch nicht Kurt Marti?
Vater:
Nein.
Mutter:
Hauptsache er ist ein guter Pfarrer und meines Erachtens erst noch der beste zeitgenössische Schweizer Dichter. Er hat ein neues literarisches Genre geschaffen: Den Nachruf für Normalsterbliche. Allerdings müsste er noch mehr davon publizieren, was wohl schwierig ist. Eigentlich sollte er den Pulitzer erhalten.
Vater:
Ja, das wäre eine gute Sache. Einen Pulitzer für Leichenreden.
[Während des noch viel längeren Gesprächs haben wir uns mit Hilfe des Brockhaus über folgende Begriffe geeinigt: Agnostizismus, Atheismus, Axiom. Praktischerweise alles in den ersten beiden Bänden drin.]

6 Gedanken zu „Tischgespräch [12]“

  1. Gutes Gespäch. Wär‘ ich gern dabei gewesen.
    Ich sage auf entsprechende Rückfragen nach Glauben und so jeweils, vom Glauben her sei ich Atheistin und intellektuell Agnostikerin – das verwirrt die meisten Leute, weil die, die es überhaupt verstehen (wollen), meinen, normalerweise sei das doch eher anders rum, und aus dieser Verwirrung resultiert meist rasch ein Themenwechsel. 😉
    Der schönste Gottesbeweis ist der Babelfish-Beweis, in dem die Existenz Gottes bewiesen wird und da Wissen Glauben widerspricht, existiert Gott nicht. „Oh, said God, and vanished in a puff of logic…“ (hitchhiker’s guide to the galaxy)
    Mit Gruss aus einem katholischen Dorf
    Katia (mit 3 ungetauften Kindern! Die Ärmsten!)

  2. Das ist natürlich auch eine gute Taktik, den Themenwechsel herbeizuführen, indem man etwas zu Kompliziertes als Meinung kundtut. Punkto Untäufe ist das Kind nun schon die 3. Generation (jedenfalls in meiner Linie) – aber dass ich nicht in der Kirchgemeinde bin (von Elternhauses wegen), erfüllt mich nicht immer mit Stolz – vor allem wenn ich sehe, was sie in unserem Quartier leistet.

  3. Schönes Gespräch. Bin erst heute dazu gekommen, ein Zitat nachzuschlagen, das ich dazu sofort im Kopf hatte. Geoff Dyer schreibt im aktuellen Granta: „Wouldn’t it be great if these Christians – these best possible advertisements for their faith – could go the extra mile, could abandon their belief – their delusion – and retain all their niceness, decency and open-heartedness?“
    Meine Haltung entspricht der von Katia – ganz einfach weil Atheismus, wie er in der Volksmeinung verstanden wird, ebenfalls auf Glauben angewiesen wäre: Die absolute Nichtexistenz eines Gottes ist ebensowenig beweisbar wie seine Existenz.

  4. In der Tat eine treffliches Zitat, Frau Kaltmamsell. Danke auch für die Granta-Besprechung, die ich sehr geschätzt habe. Das Zitat ergänzt die viel am Tisch diskutierte Frage, was denn nun die bessere Antwort auf islamische Forderungen wäre: Die Reformation zu propagieren oder den Atheismus? Sie können sich denken, dass wir uns darüber regelmässig streiten, weil wir es alle nicht wissen.
    Wegen der Nichtexistenz-Diskussion haben wir das Axiom nachgeschlagen – aber der Mann pariert diese Beweislast immer mit Marsmenschen und Ron Hubbard und deshalb unterliege ich an der Stelle regelmässig. (Noch.)

  5. Danke, Frau Kaltmamsell, für’s Verstehen meiner Gedankengänge. Das kommt recht selten vor.
    Wie geht die Parade mit den Marsmenschen und Ron Hubbard? Ist sie stichhaltig oder rein polemisch?

  6. So: Also wenn ich über die Beweise von Nicht-Existenzen diskutieren muss, so lasst uns doch zur Abwechslung mal über Marsmenschen reden.

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