Beweis der Altersmilde

Ich räume meinen PC auf und begegne einem zehnjährigen Leserbrief vom Frühling 1999, zur Zeit des Kosovokrieges. Heute würde ich kaum mehr diesen Ton anschlagen und auch nicht so rundum. (Ob der Brief publiziert worden ist, weiss ich nicht mehr, es würde mich erstaunen.)

Nach ein paar Jahrzehnten Gäbelbach bin ich einiges gewöhnt: Kindergartenseminaristinnen, die an unseren Betonfassaden nasenrümpfend mehr Farben suchen, Alt-Linke mit neuen Wanderstöcken bewaffnet, die einen überrennen, um schnell ins lauschige Gäbelbachtäli zu kommen, Einfamilienhäusler, die ihre Hunde ihre Haufen auf unsere Spielplätze setzen lassen, weil sie nie gelernt haben, vor ihrer eigenen Tür zu kehren, echte und Möchtegern-Guggenbühls, die uns ihre pädagogischen Massnamen für aggressive Jugendliche überbraten, Sozialarbeiter, die vom Stöckli in Gurbrü nach nur kurzem Stopp an ihrem Arbeitsplatz im Quartier weiter zum Abgrenzungsseminar am Neuenburgersee eilen…
Trotz alledem war ich überrascht, dass uns jetzt auch noch irgendwelche Journalisten auf den Füssen herumstehen und mit ihren schwachsinnigen Fragen an alle, die ihnen balkannahe vorkommen, schüren, was noch nicht vollends entfacht ist. „Was waren die schrecklichsten Nachrichten aus ihrem Heimatland?“ „Wissen Sie, ob Ihre Familie am Leben ist?“. Radiojournalisten entblöden sich nicht, albanische Mädchen auf dem Pausenplatz zu fragen: „Würdest Du einen Serben heiraten?“ und die serbischen Jungs: „Würdest Du ein Kind aus Kosovo bei dir aufnehmen?“ und die Kinder in aller Öffentlichkeit zu zwingen, entweder gegen ihre Schulkollegen oder ihre Eltern Stellung zu beziehen.
Zugegeben, selten war ich der Presse schon dankbar, denn es gibt alle Schaltjahre wieder einen Journalisten oder eine Journalistin, die sich redlich bemühen, ein realitätsnahes Bild der Quartiere im Westen Berns zu zeigen – aber sobald irgendwo Blut fliesst, wird derlei nicht mehr gedruckt. (Der letzte ist von Monika Rosenberg „Wo der Alltag die Vorurteile überlebt“; NZZ 13.9.97.)
In der Schweiz ist die sozialkitschige, dillemmentriefende Berichterstattung in Krisenzeiten beliebt, die Leute heulen gerne vor dem Bildschirm. Sie spenden der Glückskette und revidieren danach das Asylgesetz anstatt ihre Einstellung. Die Berichterstattung über unsere Quartiere tröstet sie über ihre eigenen Widersprüche. Offenbar schafft es keine Journalistin, aber auch kein Promi, keine Erziehungsdirektorin, kaum ein Lehrer und auch sonst niemand, der nicht sowieso hier wohnt, ein kleines bisschen echtes Interesse an den Tag zu legen und sich einmal von der friedens- und zukunftssicherenden Arbeit in unseren Quartieren ein Bild zu machen.
Trotzdem, für ganz Mutige, ein Insider-Tip aus dem Ghetto: An einem Mittwoch Nachmittag im Hort Tscharnergut zusehen, wie zwei Hortleiterinnen zu 15.–/h professionell und erfolgreich versuchen, 40 Kurdinnen, Türkinnen, Kosovaren, Serben, Kroatinnen, Tamilinnen davon abzuhalten, einander aufgrund der aufgeheizten, separierenden Medienberichterstattung die Nase einzuschlagen und gleichzeitig dafür sorgen, dass ALLE Kinder am Abend mit fertigen Hausaufgaben heimkehren.
Sollten Sie es wirklich wagen, den Hort im Tscharni zu besuchen, bringen Sie besser zwei Kilo Brot mit. Aufgrund der Sparmassnahmen ist die Finanzierung des Zvieris seit Jahren nicht mehr gesichert und Sie laufen so weniger Gefahr, gefressen zu werden.

2 Gedanken zu „Beweis der Altersmilde“

  1. Der Leserbrief war genau passend! Obwohl schon alt, fehlt mir noch heute besonders in der Hort-Brot-Sache die Milde. Drei Jahre vergebliches Bitten und Betteln bei der Stadt, damit sie 1200 Fr. bezahlt für die 180’000 Portionen jährlich benötigten Portionen Brot! (Die „Bittschriften“ und deren Absagen sind mir beim Umziehen eben gerade in die Hände gekommen.)

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