Verlassen

Verlassen
Tahar Ben Jelloun,
Verlassen
Berlin Verlag 2006

Vergangene Woche las ich in der Zeitung folgende Meldung:

Spanien hat eine erschreckende Bilanz der afrikanischen Flüchtlingswelle auf die Kanaren vorgelegt: Fast jeder sechste Afrikaner starb beim Versuch, in diesem Jahr die spanische Inselgruppe vor der Westküste Afrikas zu erreichen. Nach Angaben der Behörden kamen rund 6000 Flüchtlinge auf der oft wochenlangen Seereise nach Europa ums Leben. (…)

Dieses Buch ist ein hässliches Buch. In vierzig Kapiteln schlildert Ben Jelloun, was sich an der Südgrenze Europas abspielt – was vorher war, was danach kommt. Seine Kapitel heissen nach den Protagonisten, das Individuum ist hier Zentrum, Ursache und Wirkung. Aus der Summe der Leben schafft er eine Allegorie, wie sie zeitgenössischer nicht sein könnte.
Das klingt jetzt mächtig nach Problembuch. Nach dem häufig gescheiterten Versuch vieler Autoren, aus Zahlen der Statistik Menschen mit Biografien zu machen. Dieser Perspektivewechsel ist jedoch eine der zentralen Aufgaben der Literatur und seit jeher verantwortlich für ihr Überleben. Und warum? Weil wir in keinem Film, keiner Zeitung und keinem Sachbuch schneller und tiefer erfahren, wie etwas war oder ist, als in der literarischen Fiktion.
Müsste ich eine Hauptfigur benennen, wäre das Azel. Sein Leben berührt mehr oder weniger das Leben aller anderen. Er ist ein kluger, ansehnlicher junger Marokkaner, mit zwei Hochschulabschlüssen aus Rabat aber ohne Arbeit und besessen von der Idee, Marokko zu verlassen. Nichts hält ihn. Nicht, dass er soeben seinen Schwager als aufgeschwemmte Leiche identifiziert hat, nicht der Gouverneur, der das Fernsehen in die Leichenhalle bestellt und schreit „Nie wieder! Kommt her, ihr da, und macht Aufnahmen von den Leichen! Es muss in den Abendnachrichten kommen. Das muss aufhören. Marokko verliert seinen Saft, seine Jugend!“ – weder Mutter noch Schwester noch Freunde wären ihm Anlass zu bleiben.
Im Grunde weiss jeder vom anderen, dass er fort will, sogar die Kinder.

Zum Beispiel die kleine Malinka, Azels Nachbarin, ist wild entschlossen. Sie hatte sich gegen ihren Vater aufgelehnt, um zur Schule gehen zu können, aber der Schulweg war lang und es gab kein Material und keinen Platz für die Hausaufgaben, die Noten wurden schlecht und nun arbeitet sie doch in der Krabbenfabrik. Hunderte von Mädchen pulen in den Fabriken der Freihandelszonen. Die Krabben kommen aus Thailand, sind in Holland zum Konservieren präpariert worden und werden nun Tag und Nacht von kleinen Fingern und bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt aus ihren Schalen geklaubt. Aber Malinka hat einen Antrieb: Frankreich.
Doch Ben Jelloun hakt keine globalisierungskritische Agenda ab. Es sind kleine Wellen zwischen Leidenschaft und Gleichgültigkeit, zwischen Qual und Euphorie. Er macht es Lesenden leicht, Teil der Geschichte zu werden. Azel kommt am häufigsten vor, Malinka am wenigsten und ich erinnere mich an beide gleich gut.
Ben Jelloun hat Figuren geschaffen die ein Profil haben, eine Meinung, einen Willen. Er zeigt welche enorme Kraft jedem einzelnen Menschen im Migrationszug abverlangt wird und er hat sie genutzt, um mir – nachdem ich schon fast nicht mehr daran geglaubt habe – mein bestes Buch des Jahres zu geben.

Ein Gedanke zu „Verlassen“

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