Kantonale Klammer auf:

Wahlkampf im Steigerhubel
Es sind Wahlen in diesem merkwürdigen, alten, grossen Kanton, wo die meist übersetzten Schweizer Jeremias Gotthelf und Friedrich Dürrenmatt herkommen. Ja, klar bin ich Lokalpatriotin. Langsam, dafür wohlüberlegt, unflexibel dafür treu. Neben dem walliserischen den beliebtesten schweizer Dialekt sprechend. Vernetzt, aber nur untereinander. Mit kulturellem Graben zwischen Stadt und Land. Das ist in etwa, was man sich so erzählt.
Neu gewählt werden der Grosse Rat und der Regierungsrat. Angesichts der rot-grünen Stadtregierung wird oft unterschätzt, wie tonangebend die bürgerliche Kantonsregierung eigentlich ist. Zum Beispiel die Schulen sind ihre Angelegenheit, O-Ton „Wir passen das Bildungssystem an die Bedürfnisse der Gesellschaft an“. Und die unerträglichsten wie unrentabelsten Sparmassnahmen sind ebenfalls auf kantonalem Mist gewachsen. Heuer treten die Bürgerlichen gleich mit sechs Köpfen an, genug, um überparteilichen Widerstand zu Rettung der Konkordanz zu provozieren. Die Linke bleibt mit drei Kandidaten und einer Kandidatin bescheiden.
Leider haben viele den Ernst der Lage nicht erkannt. Ich dachte ja eigentlich, weniger Sachverstand als bei meinem abtretenden obersten Vorgesetzten sei nicht mehr möglich, aber nach dem Studium der bürgerlichen Liste gebe ich zu, vermessen optimistisch gewesen zu sein.
Personenwahl ist angesagt. Nur Alte können sich noch mit Parteien und Vereinen identifizieren. Oder Kinder. Zum Beispiel mit Greenpeace. Wegen der Wahle. Alle anderen wählen Nasen, Brillen, Scheiteln, Schlagworte und vielleicht noch das Zitat aus einem Interview.
Pesonenpromotion aus meiner Sicht:
Ich wähle Andreas Rickenbacher, weil der gut ist. Und benachteiligt durch ein Paradoxon im Verhalten direkt demokratischen Wahlvolkes, welches so funktioniert: Alle arbeiteten immer gern mit Rickenbacher zusammen. Er ist weit über die Partei hinaus beliebt und als seriös, intelligent und ameisenfleissig bekannt. Er ist konsensfähig und hat seine Führungsqualitäten in etlichen Gremien, Kommissionen und in Verbandsarbeit unter Beweis gestellt. Alles mit Bravour und Opferbereitschaft. Er ist sich nicht zu schade, Laien komplizertes Zeugs wie Finanzierungskonzepte näher zu bringen, auch in stickigen Gemeinschaftszentren. Ich verdanke ihm einige Durchblicke. Zäntume gelobt und mit den idealen Qualifikationen versehen, entschliesst er sich also für ein höheres Amt zu kandidieren. Und was passiert? Die einen lamentieren, er sei farblos, die anderen finden in zu wenig charismatisch, die Dritten meinen, eigentlich sei er noch gar nie so richtig aufgefallen und die Vierten zweifeln an seiner Profilierungsfähigkeit. Äbe.
(So nid. Muess e Läserbrief schribe. Cha-n-ig ja bim Stüür-Sunntig a-hänke.)
Ich wähle Barbara Egger, weil die als Bisherige Erfahrung und ihren Job in der Minderheit sehr ordentlich gemacht hat.
Ich wähle Philippe Perrenoud, weil man mir das ans Herz legt und ich wirklich nichts gegen ihn oder seine Arbeit einzuwenden habe. Aber das Geschrei um den jurassischen Regierungsratssitz widerstrebt mir. Hat Berns Westen einen garantierten Sitz? Mitnichten. Quotenjurassierei nervt die Städterin.
Ich wähle Berhard Pulver, weil die Roten das den Grünen versprochen haben. Und umgekehrt. Es kostet mich ein wenig Überwindung, aber ich bin schon unangenehmere Kompromisse eingegangen.
Also, Leute, die ihr hier im Kanton Bern etwas zu sagen hättet: Geht wählen und überzeugt euren Nächsten und Übernächsten davon. Und auch die, die gerade umziehen, denn diese Wahlen fallen so ziemlich auf den offiziellen Zügeltermin. Ohne aufmerksame Freunde werden Couverts mit Wahlmaterial im alten Briefkasten vergammeln oder bis zum nächsten Zügel in der Bananenkiste liegen bleiben.
Wen ihr in den Regierungsrat wählen solltet, habe ich hiermit gesagt, in den Grossrat gehören natürlich die Leute aus meinem Quartier. Und die aus eurem auch. Denn dieser Kanton ist viel mehr mehr als Stadt und Land mit Graben.
Und die, die in Bern nichts zu wählen, aber trotzdem bis hier mit Lesen durchgehalten haben, können bitte die Daumen drücken am 9. April. Zum Beispiel für eine hohe Beteiligung. Danke, das ist lieb.
Kantonale Klammer zu.

7 Gedanken zu „Kantonale Klammer auf:“

  1. Offenbar bin ich der einzige deiner Leser, der sich für kantonale Belange interessiert. Daher gleich mal drei Anmerkungen:
    1. Stimmt das mit den meist übersetzten Autoren? Zumindest bei Gotthelf würde mich das überraschen. Gegen Frisch dürfte er keine Chance haben. Aber das ist ja auch egal. Wenn wir von bedeutenden Schriftstellern sprechen, möchte ich als Wahlbieler doch auf Robert Walser hinweisen. Naja, Ranglisten sind ja sowieso Unsinn.
    2. Eigentlich hätte ich ja erwartet, dass du diejenigen zur Wahl empfiehlst, die „lesen“ als Hobby angegeben haben (wobei ich die betreffende Angaben nur bei den Bürgerlichen gefunden habe und sie auch nicht unbedingt für wichtig halte): Monique Jametti Greiner (SVP), Hans-Jürg Käser (FDP) und Annelies Vaucher (SVP). Bemerkenswert, dass in der SVP offenbar nur die Frauen lesen…
    3. Nachdrücklich möchte ich die Jura-Sitz-Garantie verteidigen. Was ohne Sitzgarantie passiert, sieht man gut an der Vertretung der Berner Romands im Nationalrat – ein regelmässiger Zittersitz, obwohl gemäss Bevölkerungsanteil ihnen gar zwei Sitze zustünden. Als sprachliche Minderheit bei Wahlen zu gewinnen, ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit.

  2. Klar stimmt das mit den Autoren 😉 Danke für die Walser-Ergänzung! Das mit den meist Übersetzten war in den Achzigern einmal korrekt, aber es gab auch Zeiten, da hatte Johanna Spyri die Nase weit vorne.
    Damals war’s wegen dem „Richter und sein Henker“ und „Die schwarzen Spinne“, die auch in Asien sehr beliebt gewesen zu sein scheinen. Aber eigentlich habe ich das Thema eher als rein emotionalen Hinweis auf meinen Lokalpatriotismus eingeflochten.
    Ich habe explizit vom jurassischen Quotensitz im Berner Regierungsrat gesprochen und sonst von nix. Ich kann hier aber gerne noch sagen, dass ich die garantierten Jurasitze im Grossrat wegen des Arguments Sprachminderheit akzeptiere.

  3. Heidi habe ich fast vergessen, natürlich. Wenn wir mal von Belletristik absehen, wäre wohl auch von Däniken ein heisser Kandidat.
    Nochmals zum Berner Jura:
    Beim Grossrat wird ja sowieso in regionalen Wahlkreisen gewählt, darum stellt sich dort das Problem nicht. Daher schaffen es dort auch Separatisten wie Maxime Zuber, der kantonal absolut keine Chance hätte.
    Die Wahl in den Nationalrat ist m.W. auf Bundesebene geregelt und der sieht einen Einheitswahlkreis vor. Da das aber Proporz-Wahlen sind, könnten die Jurassier eine Jura-Liste machen, und wenn alle Jurassier diese einlegten, erhielten sie auch zwei Sitze (aber das ist wohl kaum der Sinn von Wahlen, da das Programm ja auch noch was zählen sollte).
    Bei einer Majorzwahl (Regierungsrat) geht das aber nicht – da muss ja ein Kandidat das absolute Mehr des ganzen Kantons erreichen. Da sich diese aber in erster Linie in französischsprachigen Medien äussern, kennt man sie bei uns gar nicht. Wenn es keinen Jura-Sitz gäbe, meinst Du, espace media würde je mit einem jurassischen Kandidaten ein Interview machen?
    Hoffen wir, dass der/die Gewählte den Vorgänger in den Schatten stellt (oder wenigstens nicht das ED übernimmt) …

  4. Christoph,
    Offenbar bin ich der einzige deiner Leser, der sich für kantonale Belange interessiert.
    Das ist eine grundlose Unterstellung, die ich mit gründlich deutscher Empörung zurück weisen muss ;-). Ich interessiere mich für alles, was Tanja schreibt. Aber manchmal weiss ich halt auch, wann ich meine Klappe zu halten habe. Zu südafrikanischen Kommunalwahlergebnissen kann ich mir in Nullkommanix ein profundes Wissen zusammengoogeln – aber bei kantonalen Belangen muss ich passen.
    Tanja,
    dass „Der Richter und sein Henker“ in Asien beliebt zu sein scheint, wundert mich nicht. „Heidi“ kenne ich übrigens auch nur in der japanischen Zeichentrick-Version. Jaja, damals hiess das noch „Zeichentrick“ und nicht „Anime“…in der guten alten Zeit. Und jetzt entschuldigt mich bitte; ich muss dringend meine künstlichen Hüftgelenke schmieren und mein Hörgerät nachjustieren lassen.

  5. Ach, Marian, ich hab‘ dich auch kaum lesen können, weisst du meine Augen… sind noch aus der Zeit, als Mangas noch Comics hiessen und extra für die deutsche Leserschaft gespiegelt wurden. Die Jugen, ja, ja, die sind flexibler und lesen von hinten nach vorn.
    Sonst fühle ich mich natürlich geehrt, dass jemand aus Deutschland wirklich mein Kantonszeugs liest. Die Überschrift war als Warnung gedacht 😉

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