Lesen in der Öffentlichkeit

Natürlich, Lektüre und Wissen sind verschiedene Dinge. Aber gegen kein Glück der Welt würde ich den Lesehunger tauschen, den auch die grösste Menge von Büchern, bedruckten Seiten und Worten nicht befriedigt, dieses süsse Gefühl von einem noch nicht gelesenen guten Buch.*
Ich habe beruflich keine besonders gelungene Zeit, auf jedes gelöstes Problem folgen fünf neue. So tute ich, was ich in eher aussichtsloser Lage meistens tue: Ich gehe öfter in die Buchhandlung und kaufe ein Buch. Neulich eines, auf dessen Erscheinen ich mich schon lang gefreut hatte. Schon auf dem Weg von meiner Lehrbuchhandlung zur Haltestelle drehte und wendete ich es die ganze Zeit in der Hand, stieg dann in den Bus, setze mich neben jemanden, entfernte endlich das Einschweissplastik und liess das Lesebändchen baumeln.
Ich begann. Auf S. 26 wurde ich sanft angestossen. Die Dame neben mir flüsterte: „Bitte entschuldigen Sie. Aber ich müsste bei der nächsten Station aussteigen.“ Es klang nett. Ich schaute auf und war doch unangenehm berührt zu merken, dass noch andere Leute mich beobachteten und der Mensch auf dem Sitz hinter mir weit über meine Schulter lehnte.
Auf diese Weise öffentlich zu lesen ist hier so selten geworden, dass es auffällt. Wer heute sichtbar liest, liest ein und dasselbe Printprodukt oder auf einem Handy.
Ich fühle mich befangen.

*aus Warlam Schlamaow, Das vierte Wologda, Erinnerungen, das Buch, in dem ich las.

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