Geniesse!

Ich kann diesen Imperativ nicht mehr hören und meide ihn inzwischen selbst da, wo er passen würde.
Geniess deine Schwangerschaft! Dein Baby! Deinen Garten! Deinen Sport! Deinen Erfolg! Deine Familie! Deine Velofahrt! Dein Shoppen! Deinen Berufseinstieg! Deinen Berufsausstieg! Dein Rentenalter! Dein neues Sofa! Deine Schulreise! Die Bergfahrt! Die Talfahrt! Den Frühling! Den Sommer! Dein Wochenende! Was, du hast es nicht genossen? Wie bedaurlich, wie unverständlich, wie selbstverschuldet.
Das ist nicht Versicherungswerbung, das ist inzwischen Alltag. So beginnen und enden E-Mails, so werden Anträge beantwortet. Nicht: „Ich wünsche euch eine schöne Exkursion und hoffe, dass ihr Neues entdeckt und gesund und munter zurück kommt.“ Nein. „Geniesst die Exkursion!!!“ Nicht: „Schöne Ferien euch dreien.“ Nein. „Geniess deine Männer!“ (Abgesehen davon, dass das schon fast nach Missbrauch klingt, ist mir auch die Umsetzung schleierhaft.)
Da dieses Weblog auch ein Reflexionstool ist, frage ich mich natürlich, warum mich gerade das so aufregt. Es gab eine Zeit, vor ungefähr 20 Jahren, da habe ich mich dem „Lustvoll“ verweigert. Damals musste alles und jedes „lustvoll“ sein, der Unterricht, die Arbeit, die Ehrenämter und sogar die Quartierpolitik. In der Sache habe ich dann wirklich einmal an einer Versammlung das Wort ergriffen. Es ist mir zwar entfallen was ich gesagt habe, aber andere erinnern mich immer mal wieder daran. Offenbar habe ich mich sehr enerviert und gefragt, was – verdammtnochmal – an Velowegen und Handläufen, an Kleinklassen, Heckenschneidregelungen und Bahnübergängen, an Taktandenlisten und Revisionsberichten lustvoll sein sollte? Und was schlecht daran sei, darin einfach eine schlichte Aufgabe zu sehen? Einen stinknormalen Beitrag zur Zivilgesellschaft, die sich dank dem vielleicht weiterentwickeln könnte?
Empfinde ich den Trend als Genussterror, weil ich selber nicht geniessen kann? Das wäre möglich. Aber micht dünkt, ich pflücke den Tag ganz gern. Es wirkt heute genussfeindlich, das Wort nicht inflationär zu benutzen. Ich geniesse es, wieder essen zu können, nachdem ich krank war. Ich geniesse es, weniger Kleider anziehen zu müssen, wenn es wärmer wird. Ich geniesse die Luft und die Aussicht, wenn ich in den Bergen bin. Ich geniesse am Sommer, lange draussen sitzen zu können und ich geniesse ein Glas Wein. Früher genoss ich es eindeutig, schnell zu fahren, ich liebte Gokartbahnen und meine Snowborads waren immer Raceboards mit harten Kanten.
Wenn heute die ganze Familie zusammen ist und alle zufrieden sind und miteinander auskommen, dann geniesse ich bestimmt nicht die Menschen, sondern den Augenblick. Und sicher nicht auf Geniessbefehl, sondern im Wissen darum, dass er flüchtig ist.

11 Gedanken zu „Geniesse!“

  1. Das Befehl-Geniessen hat meines Erachtens mit Leistung erbringen zu tun, und ist darum das Gegenteil von Geniessen. Man muss. Man soll. Sei doch nicht blöd und geniesse! Man soll das Geniessen konsumieren wie andere Waren, also eine Konsumleistung erbringen. Wer je in seinem Leben an Grenzen geriet (Krankheit, Tod, Unfall), hat die Erfahrung, dass nur der Augenblick, eine gewisse Zeit, die einem das Leben schenkt, genossen werden kann.

  2. Jawohl, die «Geniesse!»-Beter gehören in die Ohrfeigenmaschine. Elende Krankenschwesternsprache.
    Dazu passt: «Wir Genussarbeiter» von Svenja Flasspöhler. Fast so lustvoll und sinnlich wie einst die selbstbestimmenden Freiräume.

  3. Checkte grad meine x SMS an dich durch und stellte erleichtert fest, dass ich dir nichts so ähnliches geschrieben habe: „Geniess deinen neuen Wohnwagen“. Hätte mir glatt passieren können… huiuiui 😉

  4. Ja, das „Geniesse“ ist ein typischer Anglizismus:
    Enjoy, heißt der Befehl dort.
    Ich lasse mir ja noch gefallen „Enjoy your meal“.
    Aber das einfache und bei jeder Gelegenheit befohlene „Enjoy!“ fand und finde ich auch merkwürdig.

  5. Heute im vor-österlichen Oster-Über-Angebot als absolutes Novum ein mit „Genuss-Ei“ angeschriebenes Schokoladen-Oster-Ei entdeckt …

  6. Merci, Michael, vielmal – dank dir bin ich erstmals versucht, ein Žižek-Zitat deutlich sichtbar mit mir zu führen: YOU ARE NOT OBLIGATED TO ENJOY.

  7. Freut euch des Lebens
    weil noch das Lämpchen glüht
    Pflücket die Rose
    eh sie verblüht!
    Man schafft so gerne sich Sorg´ und Müh´
    sucht Dornen auf und findet sie
    und läßt das Veilchen unbemerkt
    das uns am Wege blüht.
    Mag bieder tönen, ich halte es aber für weise. –
    Kennst du die Titelvariante „Freut euch des Lesens?“ Müsste dir eigentlich gefallen …

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