Katastrophenmeldungen

Ich bin eine Anachronistin im Umgang mit Katastrophenmeldungen. Wenn schreckliche Situationen weit weg und für mich schwer einschätzbar sind, nehme ich Bücher zur Hand. (Ich habe beispielsweise noch nie einen Bericht über 9/11 gesehen, nicht einmal am Tage selber in der Tagesschau oder auf CNN.) Als am vergangenen Freitag die Bildschirme der PCs im Lehrerzimmer Tsunami-Wellen zeigten und laut überlegt wurde, die Nachrichten auf die Leinwände im ganzen Schulhaus zu holen, habe ich mich dagegen gewehrt. Es ging mir dabei nicht um Schonung der Schülerinnen und Schüler, sondern darum, der Temporärempörung und -panik, von der wir als multimediale Menschen fast zwangsläufig erfasst werden, nicht noch Vorschub zu leisten.
Selbtsverständlich ist es mir ein persönliches Anliegen und verstehe ich es als meine fachliche Pflicht, den Lernenden Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Katastrophen zu bieten. Zeitgeschehen und Empathie gehören zum Beruf und unsere Azubis sind dafür sehr offen. Um mich auf Fragen und Diskussionen in der kommenden Schulwoche vorzubereiten, habe ich heute morgen nur wenig News und dafür zwei Taschenbücher mit beeindruckenden Interviews gelesen. Dank der Bücher gelang es mir, meine intakte Welt immerhin im Kopf zu verlassen und mich in eine hineinzuversetzen, die gerade aus den Angeln gehoben wird.

Bei der Lektüre handelte es sich um:

  • Swetlana Alexijewitsch, Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft
  • (s.a. Buchbesprechung und 20. Jahrestag)

  • Haruki Murakami, Untergrundkrieg – Der Anschlag von Tokyo
  • Obwohl ich beides schon einmal oder sogar mehrmals gelesen hatte, ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass sowohl Alexijewitsch wie Murakami als Voraussetzung für die Befragung der Opfer erklärten, die Sachebene verlassen zu haben. Vielleicht ist das der Weg?
    Alexijewitsch 1996 im Vorwort:
    Das Buch handelt nicht von Tschernobyl, sondern von der Tschernobyl-Welt. Eben davon, was uns wenig oder so gut wie gar nicht bekannt ist. Versäumte Geschichte – so würde ich es nennen. Das Ereignis selbst hat mich nicht interessiert: was in der Nacht im Atomkraftwerk passiert ist und wer schuld ist, welche Entscheidungen getroffen wurden, wieviel Tonnen Sand und Beton nötig waren, um den Sarkophag über dem teuflischen Loch zu erreichten; mich interessierten die Empfingungen und Gefühle von Menschen, die an das Unbekannte gerührt haben. (…) Tschernobyl ist ein Geheimnis, das wir noch zu lösen haben. Vielleicht ist es die Aufgabe des 21. Jahrunderts, eine Herausforderung an das nächste Jahrhundert. Was hat der Mensch damals erfahren, erkann, in sich selbst entdeckt? In seiner Beziehung zur Welt? Die Rekonstruktion des Gefühls, nicht des Ereignisses war mir wichtig.
    Murakami 1997 im Nachwort:
    Es hat mich tief bewegt, den Opfern persönlich gegenüberzusitzen und ihre Elebnisse aus erster Hand zu vernehmen. Wenn Sie die hier zusammengetragenen Berichte gelesen haben, werden Sie verstehen, was ich meine. Mit ihrer Tiefe und Komplexität haben sie alle meine Erwartungen übertroffen. Ausserdem wurde mir sehr deutlich vor Aufgen geführt wie wenig ich (…) wusste. Die Fakten wogen schwerer, als ich vermutet hätte. Nach einer Weile gab ich es beinahe ganz auf, darüber nachzugrübeln, was richtig oder falsch, normal oder verrückt war, wer Verantwortung trug und wer nicht. Diese Fragen spielten keine Rolle mehr. Das endgültige Urteil darüber lag ohnehin nicht bei mir; das machte mir das Zuhören leichter. (…) Wie eine unaufflällige Spinne, die in einer dunklen Ecke an der Decke sitzt, speicherte ich die Worte in mir, um sie später zu einem neuen erzählerischen Netz zu verspinnen.

    2 Gedanken zu „Katastrophenmeldungen“

    1. Ich habe Albträume nach all den Nachrichten.
      Lieber sollte ich den Alexijewitsch lesen! Ist das der, der den Witz über die Tschernobyl-Äpfel erzählt?
      Schlaft gut auf eurem Futon*

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