Andres Veiel, Der Kick

Wenn wir in diesem Jahr den 20. Jahrestag dieses großen Ereignisses begehen, schauen wir immer nur zurück. Zum tausendsten Mal schauen wir uns die alten Bilder und Filme noch einmal an. Ich kann diese Bilder nicht mehr sehen, ich kann mit all diesen Heldengeschichten nichts mehr anfangen. Ich weiß nicht mehr, was sie mir noch erzählen sollen. So oft haben wir sie schon gesehen. Warum reden wir nicht endlich über die Gegenwart? Warum fragen wir uns nicht, was die Ostdeutschen in den Jahren seither erlebt haben? Ist das so schwer?

Das ist ein legitimer Wunsch Jana Hensels (Zonenkinder). Leider hat sie recht, es gibt neben ihren nicht viele Bücher, in denen nach einer differenzierten Antwort auf die Frage gesucht wird, wie es den Menschen im und aus dem Osten Deutschlands geht. Ich möchte eines der wenigen besprechen, auch wenn es ein „Problembuch“ ist:
Andres Veiel, Der Kick
Andres Veiel
Der Kick
Ein Lehrstück über Gewalt
2009 cbt
ISBN 978-3-570-30624-6

„Problembuch“ nennen wir im Buchhandel die Titel, die sich mit Problemen von Jugendlichen befassen und sich für den Deutsch- und Kompetenzunterricht eignen. Ich weiss aus buchhändlerischer Erfahrung, dass derlei Bücher entweder Fans oder Feinde haben. Ich selber schätze solche Titel, solange sie aktuell sind, das heisst die Handlung sollte nicht länger als zehn Jahre zurück liegen.
«Der Kick» ist leicht verständliche Lektüre. Trotzdem wird hier nicht versucht, einen komplexen Sachverhalt vereinfacht darzustellen, was bei «Problembüchern» eine Gefahr ist. Man merkt, dass der Autor Regisseur und Dramaturg ist, der aus dem Stoff auch ein Theaterstück und einen Film gemacht hat und es gewohnt ist, Zugang zu einem schwierigen Thema zu verschaffen.
In diesem «Lehrstück über Gewalt» wird einer wahren Begebenheit aus dem Jahre 2002 nachgespürt: Damals misshandelten das Brüderpaar Marco und Marcel und deren Kumpel Sebastian den sechzehnjährigen Marinus grausam und ermordeten ihn schliesslich mit einem «Bordsteinkick» (Genickbruch durch einen Tritt), den sie dem Film «American HistoryX» nachahmten. Obwohl es Zeugen und Mitwisser gab, blieb die Tat monatelang unentdeckt. Dieser Umstand war der Aufhänger der endlosen Medienberichterstattung, die nichts als den Empörungskult bediente. Vor sieben Jahren war das noch weniger üblich als heute, wo sich die Berichterstattung über die Jugend im Normalfall auf deren delinquente Anlagen beschränkt. Obwohl es enorm viel Zeit in Anspruch nahm, fand Veiel damals die finanzielle und ideelle Unterstützung für sein Projekt. Ich bezweifle, dass es heute noch so wäre.

Veiel hat sein Buch wie ein Drama aufgebaut. Man lernt die Leute dieses Trauerspiels durch ihre Erzählungen kennen, sie sprechen über ihre Herkunft, ihre Erwartungen und Wünsche als Kinder und an ihre Kinder, die sich ganz anders entwickeln. Das Drama spielt sich in der Uckermark ab (die ich nur von verschwommenen Bilder von Angela Merkels Ferienresidenz kenne). Einen Teil der Recherche widmet Veiel deswegen auch der DDR. Er erforscht, wie Beteiligung sich verändert, wenn sie nach jahrzehntelangem Zwang plötzlich freiwillig wird. Im Abspann beschreibt Veiel seine Recherchearbeit und weshalb er so lange dafür gebraucht hat. Die Leute, die Veiel befragte, waren von der Tat und der Medien-Invasion traumatisiert und es brauchte zahlreiche Gespräche ohne Notizen und Aufnahmen, bevor genug Vertrauen da war und etwas dokumentiert werden durfte.
Es ist die Sorgfalt der Recherche über eine Tat, ihre Vorgeschichte und Folgen, die dieses differenzierte Buch einmalig macht. Veiel schafft, was in vergleichbaren Büchern (z.B. dem Bestseller «19 Minuten») nicht ganz gelingt: Die Täter bekommen eine Biografie jenseits der Tat ohne das Opfer in den Hintergrund zu drängen. Als Leser erfährt man mehr als aus den Medien und vor allem versteht man mehr. Aber es ist jederzeit klar, wer das Opfer ist: Der, auf den keine Haftentlassung, kein Regisseur, kein Integrationsprogramm, keine einzige Chance mehr wartet, weil er tot ist.
Ich empfehle dieses Buch als Klassenlektüre für die Sekundarstufe II, Lehrpersonen im Allgemeinen, Leuten, die Literatur über Rechtsextremismus suchen, aufgeklärten Leserinnen und Lesern, die einmal etwas anderes wollen als Kurzberichterstattungen, Leuten, die sich für die Folgen des Mauerfalls interessieren, allen, die mit Jugendlichen Theaterarbeit machen und allen, die diese besondere Form der Recherche als Drama kennen lernen wollen.
(Diese Besprechung erschien erstmals im Pegasus Nummer 96.)

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