Kinder von Beslan

Susan Sontag ist gestorben. Ich könnte einen wundervollen Nachruf schreiben, die Frau hat mich geprägt, an ihren Essays habe ich gelernt.
Und die Kaltmamsell hat ein wunderschönes Bild aus einer alten Altjahrswoche in ihrem Weblog. Auch das könnte ein Anstoss sein für ein Lieblingsthema von mir: Kinder lesen.
Aber heute geht es nicht. Die Tamilien, die nicht wie gewohnt an der Kasse stehen, nicht bedienen im Restaurant, die Thailänderin, die nicht vorbeigejoggt ist und die Familie aus Madras, die vier Stöcke unter mir wohnt, von denen niemand die Wohnung verlassen hat. Es ist das Raunen des Leidens, das auch mich erreicht. Ein Echo von Hunderten, die sich über geknickte Kinderköpfe beugen, von Tausenden, die tote Hände halten und zu verdursten drohen mitten im Wasser.
Und „Die Kinder von Beslan“ – sie lagen heute als neuer SPIEGEL-Titel (Heft 53/2004) im Briefkasten. Ein unerträglicher Bericht. Von sechs Journalistinnen und Journalisten ausgezeichnet recherchiert.
Unerträglich, weil ich nicht wissen will, dass man dem Vater ein Formular mit dem Namen seiner Tochter, Alana Kazanowa, geboren am 23. Februar 1989, zur Unterschrift hinhält, um ihren Tod zu bestätigen. Ausser wenn er für 300 Euro eine Genprobe machen lassen möchte natürlich. Weil ich nicht wissen will, dass er aufgefordert wird, zwei Decken und sieben Meter Zellophan zu beschaffen, bevor er die Leiche, die vielleicht sein Kind ist, erhält. Weil ich nicht wissen will, dass Spediteure Kühllaster vorfahren und Stauraum verkaufen, pro Leiche und Nacht für 300 Rubel und nicht wissen will, dass der Vater einen Platz kauft für seine Alana.
Ausgezeichnet recherchiert, weil das sehr schwierig ist in Russland. Weil viel Aufwand betrieben wurde, um eine Chronik der Ereignisse zu erstellen und damit wenigstens einen Teil der minutiösen Arbeit zu leisten, die russische Behörden und Presse hätten leisten sollen. Aber solche Arbeit wird nur auf öffentlichen Druck hin gemacht, und den gibt es nicht in Russland.
Mich hat Tschernobyl politisiert. Und deshalb habe ich mich immer wieder mit der Informations-Tradition in Russland beschäftigt. „Schweigen und Verschweigen sind über die Jahrhunderte zum festen Bestand der Kultur geworden, zu einem Schutzschirm vor den Zumutungen (..)“ schreibt der SPIEGEL. „Unsere Geschichte ist eine Geschichte des Leidens. Leiden ist unsere Zuflucht, unser Kult. Wir sind von ihm hypnotisiert. Aber ich wollte (…) nach etwas anderem fragen – nach dem Sinn des menschlichen Lebens, unserer Existenz auf Erden, “ schreibt Swetlana Alexijewitsch zu ihren Interviews mit Überlebenden von Tschernobyl.
Ich brauche wenige Fotos, das meiste erlese ich mir. Im Wortsinn, ich brauche guten Journalismus, gute Bücher, gute Bilder. Denn nur Qualität gibt der Information Kraft. Die Opfer haben keinen Schund verdient, was sie brauchen, ist eine Stimme.
Und also finde ich doch noch zurück zum Anfang: Susan Sontag war eine klare Denkerin in humanistischer Tradition und keine mit Wortverschleiss. Ich werde sie vermissen. Und ich war ein Buch-Kind. Lange auch ein Ein-Buch-Kind. Denn auf der Reise nach Indien hatte ich ein Jahr lang nur ein einziges. Viele seiner Seiten sind angesengt von flackernden Kerzen. An elektrisches Licht kann ich mich nicht erinnern in Bam, Madras, Goa, Amritsar, Kabul und Teheran.

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