Reflexion 2019: Ehrenamtliches

Der ehrenamtliche Einsatz in der Schweiz ist enorm. Die Carearbeit, die Aktivitäten in Sport, in Quartieren und Gemeinden wie auch in der Berufsbildung und Politik wären ohne sie undenkbar. Ohne Freiwilligenarbeit wäre das hier ein anderes Land und keines mit direkter Domokratie. Entsprechend sehe ich mich als Rädchen im Getriebe.
Dieses Jahr investierte ich meine Freizeit hauptsächlich in die Republik, die sich gut entwickelt und entgegen Berfürchtungen gerade ihren zweiten Geburtstag erlebt. Die Republik ist zur Hälfte ein Produkt der Genossenschaft Project R, die ihrerseits einen Genossenschaftsrat hat, zu dessen Präsidentin ich vor rund einem Jahr gewählt worden bin. Ich konnte das, was ich bei meiner Bewerbung und in meinem Online-Wahlkampf ums Präsidium darlegte, 2019 umsetzten. Der Genossenschaftsrat ist für mich ein besonderer Glücksfall, seine 27 Mitglieder kommunizieren so überlegt, sorgfältig und zielgerichtet, wie ich es von vergleichbaren Gremien nicht kannte. Ich lerne von jeder Gruppe und in jedem Team sehr viel – und doch merke ich, dass ein Austausch, wie ich ihn hier erlebe, Missverstänisse früher ans Licht bringt und Rückschläge erträglicher macht. Die Mühe, den Genossenschaftsrat so divers wie irgend möglich zusammenzusetzen, hat sich gelohnt.
Konkret haben wir fünf Arbeitsgruppen im Einsatz: Zukunftsprojekte, Kritik-Forum, Kommunikaiton, Marketing sowie Finance und Legal, Interessierte finden die Details in Berichten aus unseren Sitzungen. Als Aufgabe des ersten Präsidialjahres nahm ich mir die Dokumentation unserer Arbeit, die Online-Kommunikation innerhalb des Rates und den effizeinten Umgang mit To-do-Listen vor. Die Koordinationstools, die wir wählten, funktionieren nach einer Einführung mit genügend Zeit und Support für alle, das war 2019 das Wichtigste. Mich animierte dieses Amt zu vielem wie beispielsweise, mich in die Materie konsolidierte Jahresrechnung und Pflichten einer Revisionsstelle einzuarbteiten. Oder zur Lektüre von Artikeln, deren Themen mir fremd waren, die mich dann wiederum inspirierten, weitere Bücher zu lesen oder an Diskussionen teilzunehmen.
Danke denen, die sich sich für die Erneuerung, ein Monataabonnement oder für eine Mitgliedschaft entschlossen haben! Ein leserfinanziertes Medium ist und bleibt eine Waghalsigkeit. Und danke all jenen, die sich bei mir persönlich mit Feedbacks gemeldet und sich an den Debatten beteiligt haben. Mir ist neben der Republik kein Medium bekannt, das Onlinediskussionen auslöst und beheimatet, deren Qulaität (Inhalt wie Tonalität) derart haltbar ist. Dazu beizutragen und davon Teil zu sein macht mich stolz.
Und nun ein frohes neues Jahr! Mit einem Hoch auf alle Arbeit, die mit anderem als Geld vergolten wird. Vielleicht gar mit einer besseren Welt?

Genossenschaftsrat September 2019

Gruppenbild vor der Genossenschaftsratssitzung im September 2019

Reflexion 2019: Berufliches

Beruflich war 2019 hochinteressant, in meinem Tagebuch findet sich eine lange Liste besonderer Erlebnisse und aussergewöhnlicher Tätigkeiten. Die Berufsentwicklung forderte mich vor allem bei den Fachleuten Kundendialog sehr, aber auch die Grundbildung im Buchhandel stand nicht still. 2020 beginnen wir Buchmenschen schon mit der zweiten offiziellen Überprüfung der Leistungsziele der sog. Bildungsverordnung von 2009, bei den Fachleuten Kundendialog sind wir daran, die Erkenntnisse der ersten nationalen Überprüfung umzusetzen. Ein wichtiger Teil meine Arbeit, aber was kann man sich darunter vorstellen? Zum Beispiel gibt es eine mündliche Abschlussprüfung in berufskundlichen, theoretischen Themen. Bei den Fachleuten Kundendialog könnten das Empathie, Teambuilding, Fragearten sein, bei den Buchhändlerinnen betriebliche Prozesse wie Wareneinkauf oder die Einführung eines neuen Warenwirtschaftssystems. Bis jetzt finden solche Prüfungen in der sog. ersten Landessprache statt, das heisst, in der Deutschschweiz in Deutsch, in der Romandie in Französisch, im Tessin in Italienisch. In einer Überprüfung wird dann beispielsweise zwischen Lehrbetrieben, Schulen und Verbänden diskutiert, so eine Prüfung teilweise in einer zweiten Landessprache zu machen. Die Folge für die Berufsfachschule wäre, dass Sprach- und Berufskundelehrperson gemeinsam unterrichten oder sich so stark in die andere Kompetenz einarbeiten, dass sie diese allein unterrichten können. Dies einfach als Beispiel von einer Veränderung, die einen enormen Einfluss auf die Arbeit eines Kollegiums haben kann. Und solche Neuerungen rechtzeitig und unter Einbezug der Beteiligten zu planen und in sinnstiftender Art auf allen Ebenen zu vermitteln, gehört zu meinen Aufgaben.
Es kommt mir vor, als hätte ich 2019 fast nur geschrieben, neben dem Pegasus und Protokollen und Berichten aller Art, auch viele kleine Texte, Einführungen, Weisungen, Titel für Kacheln auf unserer neuen Website; und endlos redigiert. Ich schreibe gern, weil es meinem inneren Chaos zur Ordnung verhilft. Aber es ist eben schon viel aufwändiger, als die meisten denken. Nur schon die Erkenntnis, dass „kurz“ mehr Zeit braucht, ist (trotz Blaise Pascals wunderbarer Erklärung, er habe keine Zeit für kurze Briefe) wenig verbreitet. So kriegte ich oft Sachen zum Formulieren auf den Tisch, „die ja nicht lang sein müssen“ und rackerte mich ewig ab damit.
Mein Jahr war geprägt von Stellvertretungen. Im Frühjahr im Bereich Marketing und Website, im Sommer vertrat ich die Fachverantwortliche und ab Schulanfang bis im Dezember verschiedenste Lehrpersonen. Ich bin froh, ist alles mehr oder weniger gut gekommen, und doch fühlte ich mich dabei nie agil, obwohl ich mir natürlich grosse Mühe gab, so zu wirken. Ich war einfach nur müde, ich hatte manchmal wochenlang keinen freien Tag.
2019 wurde ich nicht nur 50, sondern feierte auch mein 20. Jubiläum in der Schule. Zu diesem Anlass habe ich Anfang Dezember zum Apéro riche eingeladen und es kamen viele aus verschiedene Abteilungen der WKS KV Bildung: aus Finanzen über Reinigung, Direktion und HR bis zum Kollegium, was mich enorm freute! Auf meine kleine Rede wurde ich lustigerweise immer mal wieder von Leuten angesprochen, die selbst nicht dabei waren – ich nehme es als gutes Zeichen. Mein Highlight war die Deutschlehrerin, die an dem Abend für mich ihr HipHop-Shirt gesetzt hatte. Es hat sich offenbar herumgesprochen, dass ich michbisweilen gern anders kleiden würde, als es mein Job das zulässt.
Wie viel es noch zu sagen gäbe! Aber ich lasse es nun dabei bewenden und schaue, was bei der Reflexion über das Ehrenamtliche herauskommt.

20 Jahre WKS

Lieblingsbild vom 20-Jahre-Jubiläum: Frau Hiphop in der Mitte.

Reflexion 2019: Privates

Eine feinsäuberliche Trennung zwischen privat, beruflich und ehrenamtlich ist in meinem Leben nicht möglich, auch wenn ich natürlich zwischen persönlich und professionell unterscheide.
Mich hat dieses Jahr viel Berufliches auch privat beschäftigt, auch das aus anderer Leute Berufe. Besonders meine Schwester und mein Sohn waren unerwartet oft mit Extremsituationen konfrontiert, haben dabei Enormes geleistet und viel Resilienz bewiesen. Meine Schwester steht als Heilpädagogin und Care Giverin in Notfallsituationen unter Schweigepflicht, genau wie mein in der Psychiatrie tätiger Sohn. Deshalb kenne ich weder Details noch könnte ich mich äussern. Ihre Arbeit führte mir 2019 viele gesellschaftliche Zusammenhänge vor Augen und half mir, auch in meiner die richtigen Fragen zu stellen und Entscheidungen zu treffen.
Dieses Jahr belasteten mich Krankheiten, Schicksalsschläge und Todesfälle. Teilweise doppelt, weil Privates und Berufliches sich überschnitt. Das forderte Demut und Disziplin und ganz profan: Stellvertretungen. Ich empfinde mich als dankbaren Menschen, ich sehe das Gute, das Schöne und stets die Erleichterungen, die das Leben in diesem wohlhabenden, demokratischen Land mir bringt. Und doch erschien mir 2019 gar vieles ungerecht, grundlos und steinig.
Ein wunderbares Fest zum 50. Geburtstag vom Mann und mir im September hat gute Erinnerungen in Hülle und Fülle hinterlassen. Dass im Freundeskreis einige von einem Highlight 2019 sprechen, geht uns schon ans Herz. Ich sprach dort erstmals vor über hundert Leuten, die mir alle nahe stehen. Ein ganz neues Gefühl, so ohne tausend Anspruchsgruppengedanken frei von der Leber weg zu palavern. Die gemeinsame Organisation (die wir ja mangels Hochzeits- und Tauffest zum ersten Mal machten) hat uns als Ehepaar gelehrt, was uns wichtig ist. Uns wurde bewusst, wie viele Weggefährten stets an unserer Seite waren, wie viele Freundinnen uns so lange begleiten. Und wen wir verloren haben. Und wie wir zu unseren Familien stehen und sie zu uns. Dieser Anlass in wunderbarem Ambiente mit zugeneigten Gästen und hinreissenden musikalischen Einlagen machte mein Glück sichtbar: Unverbrüchliche Familienbande, gerade auch in der nächsten Generation. Langfristige Freundschaften, so stärkend wie unterschiedlich.
Es bereicherten unzählige kleine Ereignisse mein Jahr – zum Beispiel dieses: Zu Weihnachten rief mich ein junger Mann an, der mich als Vierjähriger im Sandkasten vor dem Hochhaus zur Freundin auserkoren hatte und mir fortan wann immer möglich folgte. So war er als Kind oft bei uns, und später besuchten wir ihn regelmässig im Schulheim auf dem Land. Trotz aller Krisen gelang es irgendwie, den Kontakt zu behalten, manchmal durch Zufall oder weil ich ihn über Social Media wiederfand. Meist blieben meine Nachrichten ohne Antwort; manchmal wusste ich auch nicht, ob sie überhaupt die richtige Person erreicht hatten. Nun war ich so froh zu hören, dass er jetzt, zu seinem 25. Geburtstag, nach einem schrecklich schweren Leben einen Weg gefunden hat und zuversichtlich ist. Im Januar sollten wir uns sehen, es wäre mir eine Reisenfreude.
Über Berufliches und Ehrenamtliches möchte ich im alten Jahr und an dieser Stelle auch noch nachdenken.

Weihnachtsaussicht 2019

Dezember-Lieblingsbild: Analyse des Himmels am Weihnachtsabend.

Mein erstes Mal im Engadin

Die Schweiz hat viele Einwohnerinnen und Einwohner, die sie nicht besonders gut kennen. Ich gehöre auch dazu. So begab es sich, dass ich dieser Tage erstmals das Engadin besuchte. Natürlich hatte ich schon mehr als den Wikipediaeintrag darüber gelesen. Viele Menschen aus der Gegend sind mir bekannt, weil sie unsere Landessprachen, unsere Literatur und Politik stark geprägt haben. Und die Erzählungen aus meinem begeisterten Freundeskreis sind immer inspirierend! So ist aus dem Ausflug eine bezaubernde Begegnung geworden.

Wanderweg über Scuol

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Zum Schuljahresanfang

Ja, ich weiss, der ist längst vorbei! Ich werde dieses Jahr 50 und habe das zum Anlass genommen, noch in ein paar andere Dinge zu investieren als meinen Beruf: In seltsame Lektüren, in Feste und in Ehrenämter, die mich begeistern, selbst dann, wenn sie alles andere als rund laufen.
Die Schule hat gut begonnen, in der Abteilung Buchhandel mit 19 jungen Menschen sehr familiär. Die Klasse entwickelt sich wunderbar. Sie hat heute ihren ersten Pegasus erhalten, in dem sie natürlich mit einer ersten Vorstellungsrunde vertreten ist. Und ich konnte es nicht lassen, das Loblied aufs Buch:

Ein feiner Nachbar legte mir neulich ein Buch ans Herz: «Das musst du unbedingt lesen! Ich habe dabei die ganze Zeit an unsere Gespräche gedacht …» Das tat ich umgehend und fand nichts davon wieder. Schmälerte dies meine Lektüre? Ganz im Gegenteil! Es war die beste seit langem.
Die Einzigartigkeit geliebter Bücher entsteht nicht dadurch, dass ein Autor seine Empfindungen in Worte giesst, eine Autorin ihre Gedanken sprachlich kleidet. Die Kunst besteht in der Fähigkeit, Wörter und Sätze so zu formulieren, dass sie Gedanken und Empfindungen suggerieren. Individuelle, unvergleichliche.
Der Winter ist die beste Zeit, sich äusseren Reizen zu entziehen und inneren Bildern zu widmen. Bücher helfen uns dabei. Sie dienen dem ureigenen Bedürfnis des Menschen, das Dunkel zu erhellen.

Aufs Ganze.

Zum Schuljahresende

Die Diplomfeiern sind vorbei und es war wieder wunderschön. So viele Prüfungen waren absolviert und bestanden worden, hunderte von Jugendlichen ziehen nun mit ihren Diplomen weiter. Die Feiern meiner Abteilungen gingen mir natürlich besonders nah. Beim Fest mit den Buchmenschen eröffnete eine Absolventin mit Gesang und Gianna Molinari las aus „Hier ist noch alles möglich“ wie auch Fragmente, aus welchen vielleicht dereinst Bücher werden. Bei den Fachleuten Kundendialog gab es ebenso lebendige Auftritte – mehrsprachig und anrührend. Gar nicht so einfach, sie alle gehen zu lassen!
Es gab schwierige Momente für mich in den letzten Wochen und in meinen verschiedenen Rollen, aber davon ein anderes Mal, ich brauche etwas Distanz. Zuerst mache ich Ferien, der Mann und ich nehmen zwei grosse Taschen Lektüre mit. Darunter zeitgenössische Literatur, Sachbücher und Fachzeitschriften von Aviatik über Feminismus bis Populismus und Theologie und zwei Bände aus Eigenverlagen, die Buchhandels-Azubis selber geschrieben haben. Da freue ich mich drauf.
Ich wünsche allen warme Tage und den Kranken Genesung, besonders das.

Buchauswahl zum Abschied

Frauenstreik 2019: Tagebuch 14.06.

Morgens um 7 in Neuenegg
Mein Streiktag begann 06.50 in Neuenegg. Die Initiantin dieser Aktion war von der Gemeinde aufgefordert worden, das selbstgemachte Streikplakat von ihrem eigenen Balkon zu entfernen. Dies mit der Begründung einer fehlenden Baubewilligung und weil es die Verkehrssicherheit tangiere. Mein Start auf dem Dorfe verschaffte mir die Gelegenheit, mehrmals die Frage nach dem „warum gerade da?“ zu beantworten und diese typische Geschichte zu erzählen, die sich immer und überall in der ländlichen Schweiz so zutragen könnte, wenn eine Frau eine nicht opportune Meinung kundtut. Dank Internet können wir fadenscheinige Argumente heute parieren, kommunizieren schneller und lassen uns weniger auseinanderdividieren – ich empfinde das als grossen Fortschritt. (Bild: Franz Schweizer, Kultur Neuenegg.)
Um 11.00 Uhr traf ich dann die wichtigsten Frauen in meinem Leben am Bärenplatz in Bern: Meine Mutter und meine Schwester. „Frauenstreik 2019: Tagebuch 14.06.“ weiterlesen

Frauenstreik 2019: Statusmeldung

Emotionen: Ich bin überwältigt und desillusioniert zugleich. Das vorherrschende Gefühl ist Dankbarkeit all den Frauen von Genf bis zum Bodensee, von Basel bis Bellinzona, die das überhaupt möglich gemacht haben. Organisieren, überzeugen, schreiben, verfassen, verhandeln, planen, fundraisen, beauftragen, nachfragen, beantworten, beschwichtigen, wiedererwägen, motivieren – nicht für eine Woche, sondern über Monate hinweg, Tag und Nacht. Mobilisierung braucht enorm viel Kraft und es bleibt bis zum Ereignis ungewiss, ob diese Energie je wieder zurückkommt. Eine halbe Million Menschen waren am vergangenen Freitag auf der Strasse für mehr Lohn, Zeit und Respekt für Frauen.
Drei Tage später bin ich ermattet von den blöden Sprüchen zum Streik, den ständigen Witzen auf Kosten der Frauen, den vielen Männern, die diese zwar doof finden, aber schweigen. Was Coline de Senarclens „ridiculiser les organisatrices et les femmes en général“ nennt und rhetorisch beeindruckend erklärt, dass wir uns davon nicht beirren lassen, geht mir an die Nieren. Dennoch werde ich die Forderungen wiederholen, mithelfen, sie politisch und rechtlich zu erstreiten, die Kinder und Jugendlichen dazu anhalten, das Gleiche zu tun. Chancengleichheit in einem wohlhabenden, friedfertigen Land, in dem alle Menschen sich auf Augenhöhe und ohne Überheblichkeit und Vorverurtreilungen begegnen, das wäre meine Vision. Und ich wünschte mir letzte Tage hienieden, wo mir ein Jugendlicher mit violett lackierten Fingernägeln mal glucksend, mal weinend aus einem gedruckten Buch vorliest und eine Palliativmedizierin an meinem Bett ihr Baby stillt, während sie mich geduldig über die Stationen meines Ablebens informiert.
(Streiktagebuch folgt.)

Zum Weltbuchtag 2019

Ordnen ist menschlich und Schubladisieren eine erprobte Methode, den Wirren des Lebens zu begegnen. Warum sympathisieren wir dann mit Charakteren, die alles durcheinanderbringen? Von Romeo und Julia über Effi Briest und Pippi Langstrumpf bis zu Pettersons Findus und Lorenz Paulis bösem Pferd – lauter Figuren, die anders sind, als die Erwartungen an sie.
Wo wir dichter beieinanderleben und uns gleichzeitig ständig bewegen, transformiert sich die Gesellschaft in Windeseile. Stereotype bieten keinen Schutz, sondern verzögern überlebenswichtige Entwicklungen. Zumindest die, die gerne lesen, haben das immer schon geahnt – oder ist es sogar umgekehrt?
Hier setzt die Wirkung von Buchhändlerinnen und Buchhändlern ein: Wider Stigmatisierung und Stagnation mit beherzten Gesprächen, couragierter Sortimentsgestaltung und mutiger Kundschaft. Der Welt zugeneigt und den Menschen, die uns in ihr begegnen.

„Zum Weltbuchtag 2019“ weiterlesen

Zum internationalen Frauentag 2019

Mein Tagebuchschreiben begann gleichzeitig mit dem Schreiben, das war noch vor der Schule. Ich mochte Jahrestage und verglich die Ereignisse mit buchhalterischer Akribie. Auch die UNO-Tage und -Jahre scheinen mich schon früh beeindruckt zu haben, jedenfalls notierte ich am 31.12.1979 eine Schlechtbehandlung durch meine Mutter “am letzten Tag des Jahrs des Kindes”. Dabei liess ich unerwähnt – wohl weil es mir damals gar nicht bewusst war – dass meine Mutter nur wenige Tage vorher meine Schwester geboren hatte und schon wieder den Haushalt schmiss, in einer zu klein gewordenen Dreizimmerwohnung mit ebensolchem Budget, dafür mit offener Tür fürs halbe Quartier.
Die Notiz kam mir bei der Suche nach Zeichen der frühen Kindheit in die Hände, über die ich mich neulich mit meiner gleichaltrigen Cousine länger unterhalten hatte. Ich las diese Nacht Breife und Tagebücher und suchte nach Fotos unserer ersten Jahre, von denen es gar nicht so viele gibt (das war eine Geldfrage damals). Wir hatten gesellschaftlich schlechte Prognosen bei unserem Start ins Leben um die Jahreswende 1969/70. Nicht einmal geheiratet waren unsere Mütter worden! Ein Vater bereits bei der nächsten, der andere auf dem Absprung nach Indien. Als Kinder wurden wir schräg angeschaut, weil wir den Namen unserer Mütter trugen, der eigentlich der Name unseres Grossvaters war, seinerseits ebenfalls ein Unehelicher. Köpfe wurden geschüttelt und Nasen gerümpft auf dem Dorfe. Und unsere Mütter? Sie arbeiteten. Am Tag für Geld, am Abend für den Haushalt und in der Nacht nähten, strickten und häkelten sie unsere Kleider, passende Ringelsocken inklusive. (Und in diesen Kleidern sehe ich auch heute noch das Rebellische meiner Mutter, sie machte es immer gern eine Tick anders, ein Muster mehr, ein Janis-Joplin-Schnitt beim Röckli, ein paar Bubenschuhe zu den Manchesterhosen.) Ob hippig oder heimeling, unsere Mütter überliessen ausser unserer Entstehung nichts dem Zufall. Sie förderten uns nach Kräften und schickten uns sogar je in eine Privatschule. Ich war von der ersten bis zur letzten Klasse in der Rudolf-Steiner-Schule, und meine Mutter spann und strickte sich für deren Basare die Finger wund. Natürlich färbte sie auch hunderte von Ostereiern für den Marktstand der Schule und nähte aus kostengünstigen Stoffresten die Kostüme für unsere Theateraufführungen. Sie arbeitete als Erzieherin und Bibliothekarin und sie las Berge von Büchern. Als sie die Volksbibliothek durchhatte, fuhr sie in der Unibibliothek fort. In den Neunzigern erschloss sie sich den Computer, in neuen Jahrtausend begann sie mit Bloggen, was sie bis heute tut. Meine Cousine und ich unterhalten uns oft darüber, wie viel wir unseren Müttern verdanken und schulden. Sie verlangen jedoch weder Dankbarkeit noch geben sie uns das Gefühl, in ihrer Schuld zu stehen. Sie wollen einfach, dass wir frei sind und für uns selber und die kommenden Generationen weiterkämpfen um den gerechten Anteil an Macht, Geld, Welt. Machen wir. Versprochen!
Cornelia und Tanja 1973 mit Grossvater Tanja und Cornelia 2019