Poesiealbum 3

Blume
Wie ich die Welt will,
muss ich selber erst und ganz
und ohne Schwere werden.
Ich muss ein Lichtsrahl werden,
ein klares Wasser.
Und die reinste Hand,
zu Gruss und
Hilfe dargeboten.

1978: Meine Mutter.
2005: Sie hält sich dran.
Letzter Kontakt: Gestern.
[Jedes Kind hatte in der Steiner-Schule jährlich seinen Spruch, den es am Wochentag seiner Geburt vor der ganzen Klasse rezitierte. Das war 1978 meiner. Quelle weiss ich nicht mehr.]

Blick zurück in Bücher

Ich mach davon nur Position acht. Dafür acht.
1. Jens Rhen, Nichts in Sicht
2. Russische Liebesgeschichten
3. Satrapi, Persepolis 1 + 2
4. Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
5. Kurt Marti, Leichenreden
6. Die komischen Deutschen
7. „Ich möchte jetzt schliessen“
8. Ernst Burren, Zirkusmusig
1. war mit Abstand die beste Belletristik. 2. War meine Tür zur russischen Literatur, nachdem ich lange Zeit nur russische Sachbücher gelesen hatte (die allerdings literarischer sind als unsere). 3. und 4. waren die Autobiografien, aus denen immer wieder leise Geschichte, Theologie und Politik in meinen Alltag einfliessen. 5. und 6. waren und bleiben beste Lyrik von Liebe und Tod, 7. waren ultimative Briefe. 8. war Schweizer Alltag in Mundart und Ich-Erzählung, treffend und fein, wie seit Jahren nicht gelesen und vorgelesen.
[Zusammengesucht für MügaBlog.]

Blick zurück in Zahlen

Wie schon an anderen Orten festgestellt, ist Lob nicht gerade das, was einem als Lehrperson oft zu Teil wird. Deshalb und auch sonst, mache ich normalerweise einen Schul-Rückblicke in Prosa, für mich allein. Ich blättere in meinem unleserliches Notizheft, scrolle durch meine Agenda, lese die Einträge in diesem Weblog und ein wenig die Mailordner. Ich finde Witz, Dank, verhaltenen, diplomatischen und unverhohlenen Ärger, Enttäuschung, Leistung und dann und wann ein Kompliment.
Aber angesichts der Zeiten, in denen ich mit vielen Zahlen konfrontiert bin, in denen auch über die Fassbarkeit der Zahlen nachgedacht wird (zum Beispiel bei Ingrid), fällt mir keine Prosa ein.
Deshalb mein Rückblick in Zahlen, weil mir zum Jahresende 2004 nur das möglich ist.

  • 324 schriftliche Fragen von Lernenden beantwortet
  • 34 Fragen von Lehrfirmen beantwortet
  • 21 Fragen vom Berufsverband und der Gewerkschaft beantwortet
  • 211 E-Mails als Assistenz der Abteilungsleitung ver- oder bearbeitet
  • ca. 300 E-Mails mit Kolleginnen, Kollegen, der Verwaltung und anderen ausgetauscht
  • 63 E-Mails von und für und wegen DIK1
  • 120 Einträge für dieses Weblog geschrieben
  • Für 14 Lektionen Fachreferentinnen und Fachreferenten engagiert
  • 2 Tage Exkursion für 42 Leute (an der Frankfurter Buchmesse) vorbereitet
  • 3 Tage Abschlussreise für 17 Leute (nach München) vorbereitet und begleitet
  • 53 verschiedene Tests erstellt (davon 14 Superspezial-Nachholtests) und ca. 640 korrigiert
  • 1 ISO-Audit absolviert (im Rahmen der Zertifizierung)
  • 1 Kollegiumstag
  • 3 Apéros + 1 Weihnachtsessen
  • 6 Sitzungen und Konferenzen
  • 21 Updates der Website gemacht
  • 7’452 Minuten anerkannte LAP-Arbeit geleistet
  • ∞ Noten berechnet und berechnet und noch mal
  • 23 Buchhandlungen meiner Lernenden besucht
  • Zu jedem Punkt gäbe es noch einmal eine ganze Reihe zu sagen. Aber ich wüsste nicht bei welchem anfangen. Any one?

    Mein Stundenplan

    Stundenplan 7. Klasse, Steiner-Schule Ittigen
    Ich bin eine Steiner-Schülerin (oder Waldorfschülerin, wie man das in Deutschland nennt). Und das war mein Stundenplan der 7. Klasse. „HU“ bedeutet soviel wie „Hauptunterricht“. Das war der (ca. pro Quartal) wechselnde Schwerpunkt-Unterricht und der umfasste Fächer wie „Menschenkunde“, „Sternkunde“ oder „Pflanzenkunde“. Nach Rudolf Steiner können Kinder so besser lernen. Je älter sie werden, desto weniger sind sie auf diese Schwerpunkte angewiesen, darum taucht „HU“ in der 7. Klasse nur noch eine Lektion am Morgen auf. Wir waren zu diesem Zeitpunkt vierzig Schülerinnen und Schüler und wenn es A/B heisst, waren wir immer noch zwanzig. Ausweichen konnte man (in Platz-Not) auf die „Aufgabenstunde“ oder „Musikinstrument üben“. Eurythmie ist etwas antroposphisches, das müsste ich erklären.
    Naja, das war in Ordnung mit der Rudolf-Steiner-Schule, ich habe keine Schäden und eine Menge Nutzen davongetragen. Die späteren Noten (das System kannte ich von der Steiner-Schule her nicht) habe ich gut verkraftet und doofe Lehrer vermochten mich nicht zu schockieren, die gab es da auch. Ich begegne im Schulzimmer immer wieder Steiner-Schülerinnen und auch sie fallen mir höchstens angenehm auf.
    [Der Comiczeichner Jamiri war neulich sehr geschockt über die unerwartete Weltoffenheit seiner ehemaligen Lernstätte. Das waldorfsche Bekenntnis zum Neuen war ihm so suspekt, dass er sofort Meldung machen musste. Erklärung für Aussenstehende: Die Rudolf-Steiner-Schule, die meine und Jamiris Generation besucht haben, war das Gegenteil von aufgeschlossen und flexibel. Das hatte aber auch gute Seiten, z.B. dass die unterbezahlten Lehrpersonen unsere Pulte selber gezimmert haben, damit wir immer altersentsprechenden am Kirsch-, Birnbaum- oder Buchenholz-Pult sitzen konnten, weil Rudolf Steiner das halt mal so vorgesehen hatte.]

    2001

    Who is Who in der Schulzeitung „Pegasus“ vom Oktober 2001. Und weil der grüne Hintergrund das Ganze ziemlich unleserlich macht, hier der Text:
    Als Lehrerin der »Branchenkunde« geht mich eigentlich alles etwas an: Fächerübergreifend unterrichten ist Kür, fächerübergreifend denken ist Pflicht: Was ich heute aufschnappe, fragt vielleicht morgen ein Kunde oder ein Lehrling. Ich bin eine Generalistin in Branchenfragen, Spezialistinnen und Spezialisten habe ich zu meinem Glück immer bei den Lehrlingen gefunden. Unterrichten ist Weiterbildung für mich.
    Zwei Jahre nach dem Lehrabschluss 1991 [an der Berner Berufsschule für den Buchhandel BBB] habe ich an der gleichen BBB damit begonnen, erst als Stellvertretung und heute fest angestellt für »Berufs- und Verkaufskunde (BVK)« und »Neuerscheinungen«. In der Branche gearbeitet habe ich zuerst drei Jahre hauptsächlich im Laden (Münstergass-Buchhandlung) spezialisiert auf Geisteswissenschaften und mit wachsendem Interesse im Backoffice und in der Betriebswirtschaft ganz allgemein. Dann habe ich als Abteilungsleiterin sieben Jahre Bücher, Zeitschriften und graue Literatur für Schweizerische Entwicklungsprojekte beschafft, was mich im Bereich fremdsprachiger Recherchen und weltweiter Kontakte viel gelehrt hat. Die Ausbildung von vier Lehrlingen über diese Zeit hat natürlich auch meinen Unterricht an der BBB geprägt. Und meine Weiterbildung entspricht etwa der geschilderten Laufbahn: Informatik-Anwendung (von Wordstar – lang ist’s her – zur Office-Palette), Betriebswirtschaft, Kostenrechnung, Lehrmeisterkurs und Einführungen in die Entwicklungszusammenarbeit.
    Im 1. Lehrjahr lege ich (gnadenlos) viel Wert auf die Grundbegriffe: Fachterminologie, Distributionssysteme, Verbände, Branchenorgane und Werbemittel der Branche. Im 2. Lehrjahr geht es vorwiegend um Neuerscheinungen, um das Echo der Literatur in den Medien und um entsprechende Internetrecherchen, um das Beobachten der Konkurrenz und um Einkauf und Lagerhaltung. Im Abschlussjahr liegen die Schwerpunkte bei PR, Informatik und betriebs- und volkswirtschaftlichen Zusammenhängen. Die Einführung eines neuen Themas muss immer das alte beinhalten, was bedeutet, dass gleich von Anfang an Branchenbegriffe verwendet und laufend Brücken zum vergangenen Stoff geschlagen werden. Der einheitliche fachliche Sprachgebrauch ist bei den Lehrlingen grundsätzlich sehr gut: Kompliment an die Lehrgeschäfte! Das Unterrichten ist mir eine Freude. Dazu zwei Original-Statements aus dem Klassenzimmer:

    Anfang des 1. Lehrjahres hatten wir etwas zu kämpfen mit Madame Messerlis Unterrichtsstil, woran das lag, kann niemand mehr so genau zurückverfolgen… . Aber jetzt, Anfang des 2. Lehrjahrs und einem Jahr der Aneinander Gewöhnungs- und Kennenlernzeit kann ich nur noch sagen: Hut ab! Hochinteressante Lektionen, aufs aktuelle Geschehen bezogen plus Hintergrundinformationen und Rüstzeug fürs Handwerk: »So muess es sy!!«
    Maria

    Nicht schlecht, Frau Specht! Sie bringt den Stoff – mit viel Einsatz – echt gut rüber. (Falls es zu frech sein sollte, dürfen Sie es natürlich umformulieren).
    Philipp

    Gummistiefel

    Das Kind und ich wollten in die Stadt. Es regnete in Strömen und das Kind zog Gummistiefel an. Den Rechten links, den Linken rechts.
    Ich fragte: „Warum, Kind, ziehst du die Stiefel verkehrt herum an?“
    Das Kind antwortete: „Weil es egal ist.“
    „Aber wenn es egal ist, kannst du sie doch ebenso gut richtig herum anziehen?“
    „Weil es egal ist, lasse ich sie so.“
    Also gingen wir zur Bushaltestelle. Auf dem Weg durch die Pfützen fragte ich: „Wollen wir zählen, Kind, wie viele Leute uns auf die verdrehten Stiefel aufmerksam machen?“ Das Kind zuckte mit den Schultern und meinte „also“.
    Aber es war brav und zählte im Bus „eins, zwei, drei“ und vor der UBS „vier“ und vor der Heiliggeistkirche „fünf“ und zählte weiter beim Bell vorbei, über den Bärenplatz und vor dem Franz-Carl-Weber- Schaufenster war es schon bei zehn. Bis zum Zytgloggen zählte es „elf, fünfundvierzig, dreiundzwanzig“ und die Dame, die aus dem Laden des Penduliers trat, war genau die Hundertste. Wir passierten das Passbüro, den Kramgass-Comestibles und die Rathaus Apotheke und waren bei unserem Eintritt in die Gerechtigkeitsgasse schon bei einer Million.
    Als wir die Tür zur Nummer 26 aufmachten sahen wir, dass Findus, Pippi und Lotte, die Prinzessin, und sogar der Mann vom Bärengraben und die Buchhändlerin ihre Stiefel verkehrt herum anhatten. Und wirklich, es war hier ganz egal.
    [Diesen Text habe ich einmal auf die Bitte einer Klasse verfasst. Die Klasse wollte von mir ein typisches Erlebnis oder eine Anekdote aus meinem Leben. Sie hat daraus und aus den Erlebnissen anderer Lehrpersonen ein „Rätsel“ kreiert, das man auf S. 8 des Pegasus vom April 2004 nachlesen und auf S. 8 des Pegasus vom Juni 2004 auflösen kann.]