Alphabet

Als ich klein war, fragte ich mich oft, wie es wäre, im Alphabet an einem anderen Ort zu stehen. Zum Beispiel am Anfang oder ganz am Ende. Die Mitte fühlte sich so gewöhnlich an und ich wünschte mir „Aebi“ oder „Zwahlen“; das wäre etwas ganz Besonderes.

Welches retten?

Im Krankenhause
Alle Herbste gehn an mir vorüber.
Krank lieg ich im weissen Zimmer,
Tanzen möchte ich wohl lieber.
An die Geigen denk ich immer.
Und es flimmern tausend Lichter.
O, wie bin ich heute schön!
Bunt geschminkte Angesichter
Schnell im Tanz vorüberwehn.
O, die vielen welken Rosen,
Die ich nachts nach Haus getragen,
Die zerdrückt vom vielen Kosen
Morgens auf dem Tische lagen.
An die Mädchen denk ich wieder,
Die wie ich die Liebe machen.
Wenn wir sangen Heimatlieder,
Unter Weinen, unter Lachen.
Und jetzt lieg ich ganz verlassen
In dem stillen weissen Raum.
O, ihr Schwestern von den Gassen,
Kommt zu mir des Nachts im Traum!

Ich werde oft von den Schülerinnen nach meinem Lieblingsbuch gefragt und natürlich ist meine Antwort stets hilflos. Nur heute fragte eine anders: „Welches würden Sie retten?“
Und das, das wusste ich sofort: Die letzte Freude von Emmy Hennings, meine kleinste und ergreifendste Gedichtsammlung.

Es war einmal

der Hebst eine geliebte Jahreszeit. Seit Zweitausendundeins ist das nicht mehr so. Nineeleven war für mich ein Schock, seit Tschernobyl hat mich kein Ereignis mehr politisiert. Nur wenig später lief ein Politikerhasser im Zuger Parlament Amok. Es war eine grässliche Zeit, in der ich meinen Wertekanon täglich auf dem Prüfstand sah.
Und es war noch vor den Weblogs und dem persönlichen Austausch über Tagesereignisse. Ich verfasste dann halt einen Leserbrief, worauf die „Berner Zeitung“ mir vorschlug, einen etwas längeren Beitrag für „Ihre Seite“ daraus zu machen.
Es ist schon merkwürdig zu lesen, was man einst geschrieben hat.

Mit Sorg(en)falt

Falsch! Richtig: Friedenspreis des Deutschen Buchhandles
Mit 17 Jahren, in den wilden Achzigern, habe ich diverse Praktika bei Zeitungen und Zeitschriften absolviert.
Unter anderem im Ringier Pressehaus in Zürich. Es mangelte dort an nichts, der Mensch brauchte Klatschhefte, Programmzeitschriften, Autowandkalender, Wirtschaftspostillen und dazu boomte auch der Inseratenmarkt. Wir hatten Riesenbüros, Riesentische, Riesenaschenbecher, eine verchromte Mensa mit exqusitem Angebot auch an Alkohol, an jeder Ecke ausgebildete Korrektoren, denen nicht der kleinste Spot entging. Die „liebe Marta“ sass weiss gekleidet in ihrem hyperreinen Büro, um die Sexfragen der Nation zu beantworten, was natürlich in Tat und Wahrheit ihre Praktikantinnen erledigten. Unverwüstlich nahmen die emsigen Sekretärinnen an endlosen Desks Meldungen entgegen. Von „Unser Nachbarskind wurde von zwei Dobermännern angefallen – bekomme ich jetzt hundert Franken?“ über „Skifahrerin im Helirotor zerstückelt“ bis „mein Freund sagt, ich sei zum Anbeissen, wie werde ich Seite-3-Girl?“.
Die Redaktionskonferenz beim Blick war meine wichtigste Übung in Fatalismus. O-Ton „Nö, auf diesem Bild erkennt man den Unfall gar nicht richtig. Oooch, da machen wir bloss acht Zeilen, rechte Spalte unten – Caroline oben ohne? Aber keine Brustwarzen, hmm. Sehr grobkörnig. Kaaaaaarin! Wie gross kannst du das machen? Jean! Du machst den Kasten vom schweren Schicksal des monegassischen Hauses, da jährt sich bestimmt etwas. Und scheissenochmal, welcher Idiot hat vergessen, dem Lisi das Interview vorzulegen? Dieser Stöhlker ist schon wieder am Telefon! Also, los! Schlagzeile! Ich setze zwei Havannas samt Etui aus!“
Bei der WOZ waren die Readaktionskonferenzen anders, Luise Pusch und die weibliche Form mit dem grossen „I“ („JournalistInnen“) hielten Einzug, die politische Korrektness wurde erfunden, anstatt Chefs gab’s Vollversammlung und um Profilierer viel Krach. Nur die Aschenbecher, die waren genau so gross und überfüllt wie bei Ringier. Wenn auch eher Joints als Havannas. Ich habe bei der WOZ nicht nur mehr gelernt, sondern auch mehr und länger gearbeitet. Meistens habe ich aufgeräumt, geordnet oder gesammelt. Zum Beispiel Militärunfälle für einen, der sich im Zusammenhang mit der Initiative „Für-eine-Schweiz-ohne-Armee“ darauf spezialisiert hatte, aufzuzeigen, wie viele Tote und Verletzte das Militär in Friedenszeiten produzierte. Alles, was in der deutschen und französischen Schweizer Presse erwähnt wurde, musste ich ausschnippseln, die Quelle notieren, datieren und chronologisch einordnen. Da die Meldungen meist so klitzeklein waren, habe ich angefangen, sie immer auf gleich grosse Blätter zu kleben, was mir dann allerdings wegen Papierverschwendung verboten wurde. So waren die Zeiten damals.
Aber ich habe viel Sorgfalt gesehen, hinter den Kulissen wie zwischen den Zeilen. Selbst der vierschrötigste Sportjournalist hat sich die Haare gerauft, wenn auch nur ein Rechtschreibefehler ungesehen geblieben war. Weil ich weiss, dass die Arbeitsbedingungen für Journalistinnen und Journalisten schlechter werden und vor allem die Arbeitsplatzsicherheit verschwunden ist, halte ich mich mit Nörgeln zurück. Und auch, weil es genügend Blogeinträge mit diesem Content gibt. Doch manchmal könnte ich heulen über die Fehler in den Zeitungen (das Fernsehen habe ich längst aufgegeben). Gerade die prominent platzierten Kommentare sind oft grottenschlecht und stehen so bemitleidenswert und ohne Fundament am Zeitungsrand, dass ich gar nicht wütend, sondern nur noch wehmütig werde.
Ein anderes Mal freue ich mich wieder, zum Beispiel über neue Strebsame wie Yassin Musharbash, den ich seit dem Frühjahr regelmässig lese. Ich glaube fast, der archiviert Schnippsel aus arabischen Zeitungen.

Information black hole

Der World Disasters Report 2005 (mit den Zahlen von 2004) ist erschienen. Der Bericht des Internationalen Roten Kreuzes und Halbmonds (und bald Kristalls, wer weiss) ist eine ausgezeichnete Quelle. Kaum ein internationaler Bericht korrigiert und widerlegt so viele Pressemeldungen und präsentiert sich so einfach lesbar wie dieser. Und neu sind sogar einzelne Kapitel online. Sehr aufschlussreich ist zum Beispiel „Information black hole in Aceh“ mit dem wichtigen Kasten „Three myths – among many“. Oder das Kapitel über die Zusammenarbeit mit den Medien, das mich allerdings nicht überzeugt hat.
Als ich meine Arbeit als Leiterin des DOCUDISP abgeschlossen habe, verabschiedete ich mich mit den Worten von Womens Ink., die mich noch heute leiten:

Information is Power. Use it, share it.

Alle Leute haben ihre eigenen und sehr verschiedene Antriebsfedern. Ob ich in der Schule Workshops zum Thema Zensur mache, ob ich blogge, ob ich Bücher empfehle, ob ich ein Forum gründe: Die Motivation für viele wichtige Dinge in meinem Leben ist, dass dieses Prinzip verkannt oder gar mit Füssen getreten wird.
In diesem neuen Bericht über Naturkatastrophen heisst es, dass im Jahr 2004 eine Viertel Million Menschen in 719 Naturkatastrophen ums Leben gekommen sind. Red Cross Red Crescent erklärt darin und an der Pressekonferenz dazu deutlich, dass bessere Informationen Tausende hätten retten können. Ich bin zuversichtlich, dass auch im Hinblick auf die Hurrikane in Nord- und Mittelamerika klare Worte folgen.
Die Frage und das Problem unserers schnellen Zeitalters ist nur, ob genug lesen und verfügbar machen, was erst mit Verzögerung und nicht von Reuters kommt.

Little Lhasa, 1979

Es war ein strahlend schöner Tag, das goldene Dach der Bibliothek glitzerte in der Sonne, die roten Vorhänge leuchteten und das Kloster erhob sich bunt ins Hellblau des Himmels. Wir Kinder sprangen über Gräben und Bäche, balancierten über Mäuerchen, duckten uns unter Gebetsfahnen hindurch und spielten hinter den kleinen Steinstupas Verstecken. Wenn einer Pilgerin ein Zipfel Tsampa aus der Tasche lugte, kicherten wir hinter ihrem Rücken und warteten, bis sie sich das nächste Mal flach hinlegte, um zu sehen, ob er nun dieses Mal herausfiel. Das letzte Stück zum Tempel legten viele so zurück, zuerst stehend, die Handflächen vor der Brust aneinandergelegt, dann sanken sie auf die Knie, liessen die Hände bis ganz nach vorne in dne Staub gleiten und legten zuerst den Oberkörper dann den Kopf vollständig auf den Boden, um sich ausatmend wieder zu erheben und ein Fussmass weiter zu sein. Von Wegrand aus betrachtet, wirkten die Pilger wie eine grosse Woge, die sich im schimmernden Licht den steilen Hang hinauf bewegte. Wir Kinder sprangen mitten hinein und darin herum, manche Pilger liessen sich von uns nicht stören, andere verscheuchten uns mit Zischen oder schnellen Bewegungen, so wie die penetranten Affen der Region. Ein Mönch winkte uns zu sich und schenkte uns Kandiszucker, den er sorgfältig aus einem kleinen violetten Beutelchen verteilte, damit auch wir endlich die Feierlichkeit des Anlasses erfassten.
Unsere Eltern waren Teil dieser Menge aus betenden Tibetern und gestrandeten Europäern, die in Begeisterung ausbrachen, als der Dalai Lama vor dem Eingang des Klosters erschien. Alle warfen weisse Gebetsschleier von hinten nach vorne, Reihe um Reihe. Wir sprangen auch hoch und versuchten möglichst viele Schleier zu erwischen und weiterzugeben. Da drängte sich die Mutter meiner Freunde zu uns durch und fädelte sich mit der kleinen Lobsang auf dem Rücken und ihren beiden Kindern Tenzin und Ghesa in eine Reihe ein, von der ich nicht erkennen konnte, wohin sie führte. Ich weiss nicht mehr, wie ich selber in diese Menschenschlange hineinkam, jedenfalls wurde ich vorwärts geschoben bis ich schliesslich vor dem Dalai Lama kniete, ihn über mein weissblondes Haar kichern hörte, seine Hand auf meinem Kopf fühlte und gesegnet weiterstolperte, um wieder spielen zu gehen.
Und wenn ich dieser Tage über die vielen Begegnungen mit dem Dalai Lama lese, denke ich an McLeod Gunj und muss lachen über dieses Mädchen, das keine Eintrittskarte und überhaupt gar nicht zu suchen brauchte.

Poesiealbum 5

Lotos Flower
1978: Ich weiss nicht mehr, ob ein Mönch oder die gute Rigzin aus dem Guesthouse im Himalaya mir diese Blume gezeichnet hat. Jedenfalls habe ich sie ein Jahr lang aufbewahrt, um sie daheim ins Poesiealbum zu kleben.
2005: Leider weiss ich auch nicht, wo diese Menschen heute sind. Aber ich werde ihnen mein Leben lang dankbar und verbunden sein.

Poesiealbum 4

Chamäleon
ACH RENN DOCH NACH DEM GLÜCK.
DOCH RENNE NICHT ZU SEHR.
DENN ALLE RENNEN NACH DEM GLÜCK.
DAS GLÜCK RENNT HINTERNHER…
ZUM ANDENKEN AN DEINEN… SASHA

1979: Sasha war der, mit dem ich „ging“.
2005: Er macht viel, z.B. Magnolia.
Letzter Kontakt: in Weblogkommentaren. (Ich hoffe, das geht i.O. mit dem Copyright.)
[Übrigens: Die Zeichnung durfte ich wünschen. Chamäleon war mein Lieblingstier.]